In eigener Sache

Ich bin satt. ´Ist ne Menge nicht so toll gelaufen in letzter Zeit. Aber was soll´s. Das Leben geht weiter. Also raus und auf zu neuen Taten.
Gestern in der Stadthalle gewesen. Die Stadt lädt ein, die Agenda 2030 steht an, „Rottweil. Gemeinsam. Weiter. Denken“. Und irgendwie purzeln die Buchstaben ziemlich durcheinander. Wer dort war, weiß, was ich meine: eine große Leinwand, darauf der Slogan, und daneben fallen die Schlagworte in großen bunten Buchstaben wie fette Regentropfen nieder. Mir wird jetzt noch ganz blümerant.
Die Veranstaltung selbst war ganz gut. Fand ich. Man konnte seine Wünsche auf bunte Sticker schreiben und auf eine am Boden ausliegende Luftaufnahme – die war toll! – kleben. Oder wahlweise, wenn die Karte voll war, oder man den Wunsch nicht einem Ort zuordnen konnte, auch auf eine der Stellwände. Jede Stellwand ein Thema/eine Kategorie, jede Kategorie eine Farbe. Mir ging es wie meiner Tochter – ich wollte jede Farbe wenigstens ein Mal benutzt haben.
Was mich einzig stört, ist die Zahl. 2030. Was ich will, will ich jetzt.
2030 – das ist ja noch weiter als 2028, diese andere Jahreszahl, das Jahr der Landesgartenschau, die Zahl, der sich jetzt schon alles unterordnet.
Ich habe nichts gegen die Landesgartenschau. Und auch nichts gegen die Hängebrücke, den Turm, ein Amphitheater, einen Neckarstrand, die Touris, all das. Aber ich habe jetzt zwei kleine Kinder, und ich wohne jetzt in der Stadt.
Und es war diese Woche, Dienstag, dass wir am Mädelesbrunnen zum Picknick verabredet waren. Der Mädelesbrunnen ist an so einem brütend heißen Sommertag, wie der Dienstag einer war, der nahezu perfekte Ort. Das Blätterdach zwar nicht ganz geschlossen, aber weit genug, es gibt immer Schatten, und die Sonne kommt auf Umwegen. Der Brunnen schmuck, und flach, und kühl – und versifft.
Auch Ärsche mögen schöne Orte. Ob Mädelesbrunnen oder Kriegsdamm, Nägelesgraben oder der Brunnen am alten Spital – Kippen, Scherben, Müll, Flaschen und nur deren Hälse.
Natürlich, man kann sagen, man muss da nicht sein. Aber keiner von uns hat an diesem Abend den Nerv weiterzuwandern, zumal die Hoffnung, anderswo einen Platz mit ähnlichen Qualitäten, bloß sauberer, zu finden, mager ist. Dieser Platz ist unser Pool, unser Trampolin im Garten, Baumhaus und Versteckspielwiese. Dies ist Nachbarschaft und im Sommer verlängertes Wohnzimmer.
Und wenn ich auch Eltern bewundere und beneide, deren Kinder einem „aber nur die Füße!“ oder „nicht nass machen!“ folgen – bei meinen funktioniert das nicht, egal, wie gut die Argumente sind, egal, wie vehement mein ´Stop!´. Nach den Füßen kommt der ganze Rest, und trocken sind am Ende nur die Schuhe, die draußen geblieben sind. Die man hätte anziehen sollte, was man nicht tun wollte.
Wohlgemerkt, es sind liebe, brave Kinder. Nur übermütig halt, und lebhaft.
Ich gehe den Brunnen ab, warne vor den Scherben, die an einer Stelle draußen liegen, nach drinnen guck ich da leider gar nicht – an dieser Stelle sind sie nämlich auch drin - ansonsten sehe ich nur nicht eben appetitliches, aber ungefährliches Zeug – und wende mich, müde von so allerhand, dem Picknick zu. Und so gehen Übermut und Vertrauensseligkeit, Gelassenheit und Müdigkeit, und eben assige Arschlochmässigkeit eine verhängnisvolle Allianz ein. Das Picknick findet statt, und auch das Planschen – bis die Kleine in eine zerbrochene Flasche tritt, sich quasi im Aussteigen mit dem eigenen Körpergewicht darauf drückt – schreit – und nicht mehr aufhört.
Danach das ganze Programm. Schreien und blutdurchtränkte Geschirrtücher. Ein Notruf. Blaulicht und Martinshorn. Eine Fahrt im Krankenwagen zur Notaufnahme in der Heliosklinik. Dort ein Arzt, der fragt, was geschehen ist. Das ist vermutlich ein so ein Punkt, den er abarbeiten muss, weil es im ´Standart´ festgeschrieben steht, jener fixen Tätigkeitsabfolge, an die man sich zu halten hat, ob es Sinn macht, oder nicht. Hier macht es keinen Sinn. Denn der Arzt versteht weder Deutsch noch Englisch, was die Krankenschwester dazu zwingt, das Geschehen aufzumalen.
Das Mädchen schreit derweil und blutet.
Das soll nun keine Beschwerde sein. Das gesamte Personal der Notaufnahme war kompetent und tat sicher sein Bestes, und auch dieser zuständige Arzt hat seinen Beruf ganz bestimmt mit den hehrsten Motiven und der allergrößten Motivation ergriffen und seinen Abschluss mit Bravour gemeistert. Aber so platziert kann auch der Allerbeste nicht sein Bestes geben. Und das ist nicht seine Schuld. Ich verstehe nicht, weshalb ein Gesundheitssystem eine Aktiengesellschaft sein muss, die auf Gewinnmaximierung angelegt ist. Die die Ärzte dort einkauft, wo sie billig sind.
Irgendwie verlieren wir alle. Das Kind will nicht genäht werden. Der Arzt kommt nicht zu Potte. Aber was sein muss, muss sein, zur Not mit Vollnarkose. Dazu aber fehlt es hier an Kapazität, wir werden nach Villingen gebracht.
Stunden auf der Notaufnahme dort.
Wir sitzen im Gang, die Kleine mittlerweile im Rollstuhl, das Tuch unter ihr ist blutrot. Irgendwann wird es nicht mehr, und sie lässt sich in den Schlaf singen. Und ich sitze und staune. Ich bin mitten drin.
Ich stelle mir vor, es braucht schon eine ziemliche Kuttel und eine nicht zu knappe Portion Fatalismus, um hier zu arbeiten und sich dies über einen längeren Zeitraum hinweg zu geben. Ein langer Gang voll Drama und Trubel. Ein Gang, der vollsteht mit belegten Liegen und besetzten Rollstühlen auf der einen Seite, und allerhand Gerätschaften und Computertischchen auf der anderen. Und sehr viel spielt sich eben hier, in diesem Gang ab. Breite Schiebetüren mit Warnschildern weisen in Schockraum 1 bis 5 und in Behandlunsgzimmer 1 bis WeißderKuckuck. Und zwischen Schockraum und normalem Behandlungszimmer ein Treiben wie im Film. Alle tragen Blau und eilen umeinander, rufen sich zu, die Patienten dazwischen, sie sind die Statisten im Film. „Hast du Herr X gesehen? Ist schon jemand bei Frau Y?“. Mappen rutschen von einem hohen Stapel auf den Boden, werden aufgehoben, rutschen wieder, werden wieder aufgehoben, wieder, und wieder. Der Stapel ist zu hoch, der Tisch zu klein. Manchmal wird jemand vom Gang in einen Raum geschoben, Schockraum oder kleineres Behandlungszimmer. Ich halte mein Mädchen fest, damit sie nicht vom Rollstuhl rutscht. Es tut mir im Rücken weh. Die Unterlage ist auf den Boden gefallen. Es kommt ein ´echter´, weil dringender, unaufschiebbarer Notfall; ein 18Jähriger, der einen Motorradunfall hatte, mit Notarzt, mit Sauerstoffmaske; die Leute vom OP kommen in Grün und voller Montur dazu. Schockraum 1. Eine Mutter mit Säugling weint. Das Baby hat sich verschluckt und aufgehört zu atmen. Aber da schreit es, und also lebt es. Die Mutter heult grad weiter. Ich tät sie gerne in den Arm nehmen. Ich kann´s so gut verstehen.
Am Ende wird der Fuß genäht. Bei örtlicher Betäubung. Mein Mädchen schreit und heult und tobt, und ich halte den gesunden Fuß, damit der nicht den Arzt tritt, der die Nadel führt. Irgendwann ist zu, und ich trage sie raus, von dem ganzen Sedativum ist sie schlabbrig wie Gummi und kaum zu halten. Jetzt heißt es hoffen, dass die Wunde gut heilt und die Fäden gezogen werden können bis zum Tag unserer geplanten Abreise. Wir wollen in die Berge.
Tags darauf auf dem Rathaus angerufen. Der Mann war nicht unnett, durchaus nicht. Und humorvoll. Sie haben 50 Brunnen zu versorgen. Und sie kümmern sich halt erst um die touristisch relevanten. Als wäre die Stadt ein Freilichtmuseum. Im Übrigen würde ER Vodka nur noch in Plastikflaschen verkaufen. Und was das Spielen im Wasser angeht – irgendwann wird sicher ein Wasserspielplatz gebaut, spätestens bis zur Landesgartenschau. Für meine Kinder ist das zu spät? Nu denn – dann halt für die Enkel.
Und da sind wir also beim Ausflugsort Rottweil, und all diesen Agenden, in denen das Hier und Jetzt irgendwie zu kurz kommt.
Nächstes Mal frage ich früher nach – damit auch die abseits gelegenen Brunnen gereinigt werden. Damit sie gar nicht erst so versiffen. Ich will den Ärschen nicht das Feld überlassen. Und den Touris auch nicht. Ich will hier wohnen und mit den Kindern zuhause sein.
Und wir passen künftig besser auf. Das soll uns eine Lehre sein.
Das werden wir tun, ich hab´s fest vor. Ein bisschen eine Wehmut ist dabei. Es ist ein Schritt weg vom unbeschwerten Vertrauen. Das stinkt mir daran. Vorsicht ist auch Abkehr vom Vertrauen.
Wenn man nicht mehr barfuß planschen kann, ist dies ein anderes. Ähnlich, wenn man sich nicht mehr frei ins Spielen, Träumen, Lieben fallen lassen kann, dann ist auch dies anders. Vorsicht verändert Geschichten. Und das haben wir den Ärschen zu verdanken, die gar nicht mehr wissen, wie sich benehmen. Einer macht die Scherben. Wenn ein anderer hineintritt, hat er Pech gehabt. Ist doch scheiße.